Material zum Film ãDer Tanz
mit dem TodÒ von Eckhard Blach
Walter Kraft: Der LŸbecker
Totentanz 1
– UrauffŸhrung am
3.6.1954 in St. Katharinen, LŸbeck Inszenierung u. Choreographie: Lola Rogge,
Musik. Leitung: Walter Kraft, Masken: Curt Stoermer, Tod: Ragna Bove
– AuffŸhrung im Rahmen
der Nordischen Tage am 2. u. 3.9.1956 in St. Marien, LŸbeck, KŸnstlerische
Gesamtleitung: Christoph Mettin, sonst wie 1954
– ZDF-Aufzeichnung des
ersten Teils des Werkes in der Katharinen-Kirche, LŸbeck 27.6.1963, Sendung am
21.11.1965, zum Todestag Adenauers am
19.4.1967, Inszenierung und Choreographie: Lola Rogge, Tod: Roger George
– AuffŸhrung als
Altarspiel in St. Marien LŸbeck 17.6.1966, Inszenierung: Robert Ludwig, Tod:
Harald Pfeiffer
– AuffŸhrung im Rahmen
der LŸbeck-Woche Coventry 23. u.
24.6.1972, Inszenierung, Choreographie, Tod: Roger George
– AuffŸhrungen u.a. in
Freiburg 24. u. 27.11.1968 und
ZŸrich 10. u. 11.11.1973, Regie:
Klaus Knall, Choreographie und Tod: Jean Claude Ruiz
ã†ber der Musik des
'LŸbecker Totentanzes' steht als symbolhaftes Vorbild die mittelalterliche
Kathedrale, in der polare GegensŠtze zu einer Einheit gebunden sind. Wie etwa
die Verkšrperungen himmlischer wie dŠ- monischer MŠchte alle dem sakralen
Bereiche zugeordnet und noch einbezogen sind, so wird im 'LŸbecker Totentanz'
diese Einheit zum Gleichnis fŸr die angestrebte Ver-einigung von unvereinbar
erscheinenden musikalischen GegensŠtzen. Der Einzeltod des Menschen im
StŠndewesen mittelalterlicher Ordnung – wie im GemŠldefries des Bernt Notke
zu volkstŸmlicher Anschaulichkeit geformt – und der technisierte
Massentod unserer Zeit im Zusammenhang mit den apokalyptischen Weissagungen
finden in der musikalischen Form entsprechende Aussage: hier bewu§tes
ZurŸckgreifen auf folkloristischen Stoff (alte Tanz- und Liedweisen), wie
Motetten-Zitate mittel- alterlicher Meister (in Originalgestalt als Thema und
in variierter Form als Verarbeitung in der †berschichtung und ZusammenfŸgung
mit anderen musikalischen Teilen), und dort die Verwendung von spezifisch
zeitgenšssisch-musikalischen Elementen der Zerstšrung der alten Ord- nung der
TonalitŠt (Zwšlfton-Reihen).
†ber die musikalische
Funktion hinaus gewinnen gewisse Ausdrucksformen sinnbezŸgliche Bedeutung und
An- wendung, wie z.B. das Ostinato, das nirgends zufŠllig, sondern nur dann
auftaucht, wenn eine textinhaltlich entsprechende Beziehung gegeben ist, wie
etwa: die alles niedermŠhende 'Todes-Sichel' und der 'Todes-Pfeil' in den
Liedern vom 'Schnitter Tod' und 'Grimmig Tod' (Ostinato-Motiv in der Solo-Violine);
die unerbittliche Wiederkehr des Todes, als Gesetz fŸr alle, in den TŠnzen der
Friesfiguren (Pauken-Ritornell und Ostinato-Motiv des Tanzes des Todes, in der
Flšte, 'Ÿber alles hinweg'); die Offenbarung des Johannes von der MajestŠt
Gottes und der Ewigkeit ('ewige' FortfŸhrung des Glocken-Motives usw.), sowie
der glockenspielartige monotone Reigen aller 'toten' Friesfiguren mit der
stŠndig wiederholten Tanz-Musik des Todes.
Im Gegensatz zu anderen
Werken dieser Gattung bleiben die auftretenden Figuren des 'LŸbecker
Totentanzes' stumm – Schemen, Gestalten aus dem majestŠtischen Reich des
Todes – und lassen so den zerstšrten Fries in gespenstigem Reigen
wiedererstehen.Ò Walter Kraft 2
Aus der
EinfŸhrungs-Ansprache zu einer Kammermusik des Kirchenorchesters in der
kreuzkapelle am 16.4.1942 – erste Veranstaltung nach der Zerstšrung
LŸbecks:
ãEs ist wohl niemand unter
uns, der nicht in diesem Augenblick von dem gleichen Empfinden getragen wird.
Es ist heute anders als sonst. Wir stehen an einem neuen Anfang. Es sei mir
darum gestattet, einige Worte Ÿber das landlŠufige, mit einer Programm-Ansage
und -ErlŠuterung zusammenhŠngende, hinaus zu sagen.
Wir denken schmerzlich all
des Verlorenen, und wo sich die Trauer Ÿber das Entrissene besŠnftigt hat, da
taucht die bange Frage auf: was wird nun aus dem Kulturleben unserer Stadt, aus
der Musik, aus dem A und O des musikalischen LŸbeck, der Kirchenmusik?
ZunŠchst: an dem Šu§eren
Gang der Dinge wird sich nichts Šndern! Dieses ist nicht unsere private Auffassung,
sondern der Standpunkt des Kirchenrates, wofŸr wir herzlich dankbar sind.
Unsere Auffassung ist diese: Jetzt hat unsere Mission erst recht begonnen. Das
LŸbeckische Kirchenorchester wird das verkŸnden, was die Orgeln nicht mehr
sagen kšnnen. Wir werden in den LŸbecker Kirchen und anderen RŠumen die
Tradition fortsetzen und ferner das klingende LŸbeck weitertragen in die Lande.
Wir betrachten uns als die geistigen Erben der Totentanzorgel! Das verpflichtet
uns und wir sind mit dieser ErfŸllung nicht an RŠume gebunden.
Wir haben auch bisher schon
im In- und Auslande 'LŸbeckische Musiken' veranstaltet, vor allem geprŠgt durch
unseren Meister Dietrich Buxtehude. Nun wird dieses unsere vornehmste Aufgabe
sein, wir wollen mit dazu beitragen, da§ in aller Welt LŸbecks Kultur leben-
dig bleibt und alle
berufenen KrŠfte fŸr den Wiederaufbau gesammelt und verpflichtet werden.
Ich denke nicht daran, jetzt
'fahnenflŸchtig' zu werden. Wenn nicht všllig verŠnderte VerhŠltnisse
eintreten, so werde ich in LŸbeck bleiben, und dieses ist auch die Auffassung
meiner Arbeitskameraden. Ich will den Tag erleben, wo die Marienkirche wie ein
Phšnix neu ersteht. Gewi§, es ist Unersetzliches verloren gegangen, dennoch
glaube ich, da§ es mšglich sein wird, dem Innenraum seine gigantische Grš§e
wiederzugeben, vielleicht sogar Šhnlich dem GeprŠge, das die Kirche im
Mittelalter hatte, und dieser Wiedergewinn ist kein mŠ§iger Ersatz, haben doch
bisher die schwer lastenden, raumerdrŸckenden Epitaphien das gotische
AufwŠrtsstreben der Pfeiler beeintrŠchtigt. Gewi§, die Behaglichkeit hansischen
BŸrgertums, die AusschmŸckung frŸherer Jahrhunderte kann nicht wiedergewonnen
werden, aber die sakrale Geschlossenheit der Architektur wird schšner denn je
erstehen.
Und wenn an Stelle des
barocken Altars ein gotischer FlŸgelaltar stehen wird und hier und da ein altes
Bildwerk, so wird auch alles andere nicht als Kahlheit empfunden werden
kšnnen.Ò 3
ãNotkes Totentanz und die
Zerstšrung LŸbecks und seiner Marienkirche haben den Organisten an der LŸbecker
Marienkirche und Professor an der Freiburger Musikhochschule, Walter Kraft, zu
einem dreiteiligen szenischen Oratorium inspiriert.ÉIm ersten Teil des
Oratoriums – 'Der alte GemŠldefries' – begegnen uns Notkes
Gestalten, 24 Personen, die einzeln nacheinander ihren Tod erleiden, in einem
pantomimisch-rhythmischen Bewegungsspiel. Sie sind stumm, ihr ZwiegesprŠch mit
dem Tod wird nicht vertont. Sie bewegen sich holzschnittartig nach
mittelalterlichen Tanzweisen. Nachdem sie alle ihren Tod erlitten haben, fŸhrt
der Tod den Reigen an, wobei jeder Gestalt ein eigener kleiner Tod begegeben
ist, genau wie auf dem GemŠldefries. Diese szenischen Darbietungen werden
umrahmt und unterbrochen vom Chor der himmlischen Heerscharen, vom Chor der
Abgeschiedenen, von tršstlichen Stimmen (Knabenchor), von Seligpreisungen,
Ermahnungen durch die Evangelisten und anderem.
'Die Zerstšrung der Stadt'
bildet den zweiten Teil des Oratoriums. Ihm liegen Texte der Offenbarung des
Johannes zugrunde, insbesondere aus dem 8. und 9. Kapitel. Es tanzen dŠmonische
Gestalten, ein persšnlicher Tod tritt hier nicht auf. Die gepanzerten
Heuschrecken zerstšren alles und die Stadt sinkt in TrŸmmer. Aber St. Michael
erscheint, der dem hšllischen Treiben Einhalt gebietet. Die Abgeschiedenen
ziehen in das himmlische Jerusalem ein.
Im abschlie§enden dritten
Teil – 'Verhei§ung und Wieder- erstehung' – folgt nach einer
Hortatio eine Marien-Motette und die Verhei§ung von der Wiedererstehung. Vor
dem Auszug vereinigen sich alle Gestalten zum Schlu§choral 'Ehre sei Gott in
dem hšchsten Thron'.Ò
Dr. Hans MŸller4
ãAm 9. Juni 1905 in Kšln
geboren, entscheidet er sich frŸh zum Musikerberuf und debŸtiert bereits mit 14
Jahren als Konzertpianist. Vom Klavier wechselt er dann aber bald zur Orgel
Ÿber und Ÿbernimmt 1924 ein Organistenamt in Hamburg. Als 1929 der Organist der
LŸbecker Marienkirche, K. Lichtwark, in den Ruhestand tritt, bewirbt sich Kraft
um die bedeutende Stellung und wird vom Kirchenvorstand, der besonders von
seiner ungewšhnlichen Improvisationskunst beeindruckt ist, unter 45
Mitbewerbern zum Marienorganisten auf Lebenszeit gewŠhlt.
Durch Krafts Initiative
gewinnt das kirchenmusikalische Leben der Hansestadt starken Aufschwung. Unter
ihm erhalten die Kirchenkonzerte in St. Marien wieder die alte, von Tunder
eingefŸhrte bezeichnung 'Abendmusiken', die er mit dem von ihm geleiteten
Marienchor gestaltet. In AnknŸpfung an die alte Kapellentradition grŸndet er
1939 das LŸbeckische Kirchenorchester, einen damals in Deutschland
einzigartigen, amtlich besoldeten Solistenkreis hochqualifizierter Musiker und
zum Teil Spieler wertvoller alter Originalinstrumente, der die AuffŸhrung von
Werken aus der Zeit von der Gotik bis zum Barock im authentischen Klangbild
ermšglicht.É
Durch die weitgehende
Zerstšrung der Marienkirche beim Luftangriff 1942 verliert Kraft die StŠtte
seines Wirkens. Ohne sein LŸbecker Organistenamt aufzugeben, folgte er 1947
einem Ruf des Badischen Kultusministeriums an der Freiburger Musikhochschule
als Leiter einer Orgelklasse und wird zum Professor ernannt. Nach Schlie§ung
der bisherigen Landesmusikschule in LŸbeck wird Kraft 1950 zum kŸnstlerischen
Leiter der neu gegrŸndeten Schleswig-Holsteinischen Musikakademie und
Norddeutschen Orgelschule berufen, ein Amt, das er bis 1955 innehat.É
Allen 'Ismen' und
Festlegungen auf eine bestimmte 'Richtung' abgeneigt, fŸhlt sich Kraft, der aus
der Kompositionsschule von Hindemith hervorgegangen ist, in seinem Schaffen der
Musik des Mittelalters, der NiederlŠnder und der Barockmeister zutiefst verpflichtet
und schreibt doch 'neue Musik', fern von epigonalem Historismus. Mit der Musik
der NiederlŠnder hat er die Vorliebe fŸr kontrapunktische KŸnste gemeinsamÉ
Der bisherige Gipfelpunkt in
Krafts kirchenmusikalischem Schaffen ist sein Chorwerk 'Christus', dessen 1944
beabsichtigte, aber durch Gestapo-Verbot vereitelte UrauffŸhrung im Herbst 1945
in LŸbeck stattfand.ÉIn der musikalischen Gesamtkonzeption aber steht das Werk
ohne Vergleichsmšglichkeit da, denn noch niemals ist das Wagnis unternommen
worden, ein 'abendfŸllendes' Oratorium (AuffŸhrungsdauer zweieinhalb Stunden)
unter gŠnzlichem Verzicht sowohl auf einen Instrumentalkšrper als auch auf
Gesangssoli zu gestalten.ÉÒ
Walther KrŸger, 19605
1 Texte aus dem Programmheft ãLŸbecker Totentanz von Walter
Kraft – Auseinandersetzung mit einem ThemaÒ, Redaktion: Eckhard Blach,
UrauffŸhrung 8.5.1992, St. Petri LŸbeck, alle Texte von Eva-Maria Kraft
2 Walter Kraft: Der LŸbecker Totentanz, im Programmheft der
AuffŸhrung, LŸbeck 1956
3 Ansprache Walter Krafts am 16.4.1942, maschinengeschrieben
4 AuszŸge aus Dr. Hans MŸller: 'Der LŸbecker Totentanz' von
Walter Kraft, maschinengeschrieben
5 Walther KrŸger: Walter Kraft, in Musik und Kirche, 3/1960,
S.148